Pressemitteilung der Kampagne TATORT Kurdistan, 22.11.2012
Mit der Absicht der Bundesregierung auf Anfrage der Türkei im Rahmen der NATO Flugabwehrraketen des Typs Patriot an der syrisch-türkischen Grenze zu stationieren, wird Deutschland endgültig Kriegspartei. Der Ankündigung von Bundeskanzlerin Merkel beim letzten Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan “Deutschland fühle sich für die Sicherheit der Türkei verantwortlich”, sollen nun Taten folgen. Sinn der Raketenabwehrstationierung sei angeblich, die Türkei vor syrischen Luftwaffen- und Raketenangriffen zu schützen. Dass dieses Szenario an den Haaren herbei gezogen ist, räumen sämtliche politischen Sachverständigen und Medienkommentatoren ein. Ein Angriff Syriens auf die Türkei wäre für den syrischen Präsidenten Assad in der aktuellen Situation Selbstmord. Die Patriot-Raketen dienen nicht dem Schutz der türkischen und kurdischen Bevölkerung im Grenzgebiet. Sie geben vielmehr der türkischen Armee Feuerschutz bei deren Unterstützung islamistischer Söldnerbanden insbesondere in den kurdischen Landesteilen Syriens. Damit leistet die Bundesregierung aktive Unterstützung bei der Vorbereitung neuer Massaker an der kurdischen Bevölkerung.
Auch wenn sich die Türkei aufgrund der Flüchtlinge aus Syrien und gelegentlicher Granateinschläge bislang unbekannten Ursprungs in Grenznähe als Opfer darstellt, ist sie als einer der hauptverantwortlichen Kriegstreiber für die desolate Situation in Syrien im hohen Maße mitverantwortlich. Nach kurzem Zögern zu Beginn der Proteste in Syrien setzte Ministerpräsident Erdogan auf den Sturz Assads in der Hoffnung, durch eine dortige Machtergreifung der mit seiner AK-Partei verbündeten sunnitischen Muslimbrüder den türkischen Einfluss in der Region auszubauen. Die Ausbildung und Aufrüstung der sogenannten Freien syrischen Armee (FSA) in türkischen Ausbildungslagern sowie logistische Unterstützung durch aus Katar und Saudi-Arabien finanzierte Waffenlieferungen sorgten in kurzer Zeit dafür, dass sich der anfängliche demokratische Aufstand der syrischen Bevölkerung in einen religiös-ethnischen Bürgerkrieg unter Beteiligung zahlreicher ausländischer djihadistischer Söldner verwandelt hat. Dieselbe Türkei, die sich nun als Opfer syrischer Aggression darstellt, bombardiert zudem regelmäßig völkerrechtswidrig Ziele im Nordirak und begeht im eigenen Land im Kampf gegen die kurdische Guerilla Kriegsverbrechen durch den Einsatz chemischer Waffen.
Die Gefahr einer direkten syrisch-türkischen militärischen Konfrontation geht eindeutig von der Türkei aus. Schon im Sommer ließ sich die türkische Regierung eine Militärintervention in Syrien per Parlamentsbeschluss absegnen und zog in den letzten Monaten massive Militärkräfte an der Grenze zusammen. Auf internationaler Bühne wird die Türkei nicht müde, nach libyschem Vorbild eine Flugverbotszone für Teile Syriens entlang der türkischen Grenze zu fordern. Dabei wird offen eingeräumt, dass diese Gebiete dann als ungestörtes Aufmarschgebiet der diffusen bewaffneten syrischen Oppositionskräfte und djihadistischen Banden dienen sollen, um den Sturz Assads zu beschleunigen. Hauptziel der Türkei ist es hier in dieser „Schutzzone“ die kurdischen Autonomiebestrebungen in Syrien von Anfang an zu ersticken, wobei sich die türkische Armee zurückhalten und wie schon jetzt die Drecksarbeit den Söldnereinheiten der FAS überlassen würde.
Ein solches Vorhaben traut sich die Türkei aber ohne die Unterstützung der NATO nicht zu. Aufgabe der in Aussicht gestellten Patriot-Abwehrraketen der Bundeswehr wäre es, diese Flugverbotszone abzusichern, sei es durch direkten Abschuss syrischer Kampfflugzeuge in Grenznähe oder durch die Abwehr zu erwartender syrischer Gegenangriffe. Da aufgrund der Haltung Russlands und Chinas kein UN-Mandat für ein direktes Eingreifen in Syrien zu erwarten ist, wäre zumindestens ein Einsatz im syrischen Luftraum eindeutig völkerrechtswidrig. Angesichts der Tatsache, dass sich eine große Mehrheit der türkischen Bevölkerung einschließlich der AKP-Anhänger gegen eine weitere militärische Eskalation mit Syrien ausspricht, verbietet es sich auch im Zusammenhang mit der geplanten Aufstellung der Patriot-Raketen von einem „Schutz der Türkei“ zu sprechen. Geschützt werden soll nicht die Bevölkerung, sondern das Hegemonialstreben der AKP-Regierung.
Mit ihrer einseitigen Parteinnahme und Aufrüstung der bewaffneten vom Ausland aus agierenden syrischen Opposition ist die Türkei nun an ihrer Grenze mit einem Bürgerkrieg konfrontiert. Als größte Gefahr betrachtet die Türkei vor allem die Entwicklung im kurdischen Teil Syriens, wo sich unter Vermeidung größeren Blutvergießens kurdische Selbstverwaltungsstrukturen etabliert haben, die sowohl zum Assad-Regime wie auch zu der von den Muslimbrüdern dominierten syrischen Opposition Abstand halten. In den weitgehend kriegsverschonten kurdischen Gebieten betreibt die Türkei eine aktive Destabilisierung, So hat sie etwa in die kurdische Stadt Serêkani (Ras al-Ain) Militante der “Freien Syrischen Armee gegen den Willen der Bevölkerung über die türkisch-syrische Grenze einmarschieren lassen und dadurch erst Gefechte mit der zuvor gar nicht mehr in dieser Stadt stationierten syrischen Armee provoziert. Die nachfolgenden Luftangriffe direkt am Grenzstreifen dienten unter anderem zur Rechtfertigung für die Anforderung von Patriot-Raketen.
Vor dem Einmarsch dieser djihadistischen Söldner nach Serêkani am 8. November räumte die türkische Armee eigens die Minen am Grenzstreifen. Am 19. November gab die türkische Armee den djihadistischen Kämpfern direkten Feuerschutz durch den Beschuss kurdischer Selbstverteidigungsmilizen mit Kurzstreckenraketen. Auch in den kurdischen Vierteln von Aleppo und in der Region Afrin erfolgten direkte Angriffe von türkeinahen FSA-Einheiten auf die dortige Bevölkerung.
Leider steht die Türkei mit ihrer Kriegspolitik nicht alleine da. Auf Betreiben des französischen Präsidenten Hollande soll die syrische Opposition (nun auch offiziell) mit Waffen beliefert werden, um das Baath-Regime zu stürzen. Die Verlegung deutscher Patriot-Raketen dient dem selben Zweck und hat mit defensiver Verteidigung nichts zu tun. Entgegen vorgetäuschten humanitären Argumenten sind die Hintergründe der westlich/türkisch/arabischen Intervention in Syrien geostrategischer Natur. Mit einer Schwächung Syriens – sei es durch „government change“ oder Bürgerkrieg – soll hauptsächlich dem Iran ein Bündnispartner genommen werden. Die Destabilisierung des Irans stünde dann als nächstes auf der Tagesordnung.
Als Kampagne Tatort Kurdistan kritisieren wir seit längerem die Menschenrechtsverletzungen und den Krieg im kurdischen Teil der Türkei sowie den Beitrag, den Deutschland dabei militärisch/politisch/wirtschaftlich leistet. Mit Sorge sehen wir nun, dass auch die Selbstverwaltungsstrukturen im kurdischen Teil Syriens von der Türkei bedroht werden und wiederum die deutsche Bundesregierung durch militärische und politische Unterstützung ihren Beitrag leistet.
Während die hiesige Presse die Kriegsverbrechen der verschiedenen unter dem Mantel der FSA agierenden Gruppen stillschweigend als Kolalateralschäden auf dem Weg zur Beseitigung Assads in Kauf nimmt, werden über die in Westkurdistan das Vertrauen der Bevölkerung genießende Partei PYD gezielt Lügen verbreitet, sie stünde an der Seite Assads oder unterdrücke die Bevölkerung. Anstatt die kurdische Vorstellung des demokratischen Konförderalismus als Modell des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Religionen und Ethnien im Mittleren Osten zu unterstützen, wird gerade die kurdische Befreiungsbewegung in allen Teilen Kurdistan von Europa und den USA massiv bekämpft. Statt der Suche nach politischen Lösungen findet eine endlose Kette von Militärinterventionen statt, bei der der eine Einsatz (Libyen) die Gründe für den nächsten schafft (Mali). Der Mittlere Osten braucht weder Patriot-Raketen an der türkisch-syrischen Grenze noch deutsche Panzer für Saudi-Arabien, sondern aktive Friedenspolitik und Achtung der Menschenrechte. Dafür setzt sich die Kampagne Tatort Kurdistan weiter ein.
Kampagne TATORT Kurdistan, 22.11.2012
Pressemitteilung Keine Patriot-Raketen [pdf]