Welche Bedeutung hat die Roadmap in der jetzigen Situation in Kurdistan, der Türkei, Syrien, dem Mittleren und Nahen Osten, in Europa?
Extralegale Hinrichtungen, Festnahmen, Massenverhaftungen, Vertreibung, militärische Operationen …
Der steinige Weg zur Roadmap
Lesung und Diskussion mit Reimar Heider,
Mitarbeiter der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan — Frieden in Kurdistan«
im TATORT Kurdistan Café
am Mittwoch, 27. Februar 2013,
18:30 Uhr
im Centro Soziale, Sternstr. 2, 20357 Hamburg
Nach einiger Verzögerung erscheint Anfang 2013 Abdullah Öcalans »Roadmap für Verhandlungen« endlich auch auf Deutsch. Öcalans Roadmap hat eine bewegte Geschichte. Erstmals wurde sie von Öcalan im Frühjahr 2009 angekündigt. Heute wissen wir, dass damals der Oslo-Imralı-Prozess, also die Gespräche zwischen türkischen staatlichen Stellen, dem auf Imralı völlig allein in Isolationshaft sitzenden Abdullah Öcalan und hochrangigen PKK-Vertretern begonnen hatte.
Öcalan kündigte das wegweisende Dokument öffentlich an und bat um Vorschläge und Meinungen. Dies löste eine breite öffentliche Debatte über die Forderungen der kurdischen Seite aus, während gleichzeitig offenbar wurde, dass die Regierungsseite kein wirkliches Konzept für eine Lösung der kurdischen Frage hat. Fikret Bila, ein für seine Nähe zum Militär bekannter Kolumnist der Tageszeitung Milliyet, schrieb damals: »Wir kennen in Grundzügen Öcalans Roadmap, doch wo ist Erdoğans Roadmap?«
Öcalans Roadmap indes wurde, obwohl sie an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) adressiert war, illegalerweise von den Behörden konfisziert und nicht weitergeleitet. Erst nach einem 18-monatigen Tauziehen zwischen dem EGMR und der türkischen Regierung wurde das Dokument nach Straßburg weitergeleitet und in Öcalans Beschwerdeverfahren zu den Akten genommen. Ironischerweise bestätigte das Vorgehen der türkischen Behörden genau den Gegenstand der Beschwerde: die massive Behinderung der juristischen Verteidigung als Teil der illegalen Isolationsbedingungen auf der Gefängnisinsel Imralı.
Nach dem im Juli 2011 erfolgten Abbruch der Verhandlungen durch Erdoğan wurden – vermutlich aus MIT-Kreisen – im September 2011 Mitschnitte von »Oslo5« im Internet geleakt. Im Februar 2012 tauchte in der türkischen Presse der Text eines Abkommens auf, das mit »Oslo10« überschrieben war. Im Dokument selbst werden die Gespräche als »Oslo-Imralı-Prozess« bezeichnet. Aus beiden Leaks wissen wir heute, dass sich die Gespräche äußerst eng an Öcalans Roadmap orientierten.
Hakan Fidan, damals Sonderbevollmächtigter von Ministerpräsident Erdoğan und heutiger Direktor des Geheimdienstes MIT, ist auf dem Mitschnitt von »Oslo5« zu hören, wie er erklärt, Erdoğans Vorstellungen stimmten »zu 90 bis 95%« mit Öcalans Vorstellungen überein. In »Oslo10« finden sich unter der Überschrift »Punkte, zu denen Übereinkunft besteht« mehrere direkte Verweise auf von Öcalan verfasste »Dokumentenentwürfe«, die bereits in seiner Roadmap erwähnt sind.
Diese Erwähnungen unterstreichen die Signifikanz des jetzt als Buch erscheinenden Dokuments. Es handelt sich nämlich nicht um einen bloßen Forderungskatalog Öcalans oder der kurdischen Seite, sondern um eine profunde Analyse der Hindernisse für eine Demokratisierung der Türkei und eine Darstellung der Schritte, die beide Seiten für eine Lösung des Konfliktes unternehmen müssen. Damit nimmt es einen möglichen Kompromiss am Verhandlungstisch bereits vorweg und lässt das Fehlen eines umfassenden Lösungskonzepts der türkischen Seite umso dramatischer erscheinen.
Seit dem 27. Juli 2011 befindet sich Öcalan in verschärfter Isolation ohne Kontakt zu seinen Anwältinnen und Anwälten. Damit soll er zum Schweigen gebracht und eine politische Lösung unmöglich gemacht werden. Der türkische Staat hat vergeblich versucht, auch die Publikation der Roadmap zu verhindern. Wer genau wissen möchte, welche konstruktiven Vorschläge nach dem Willen Erdoğans nicht an die Öffentlichkeit dringen sollten, kommt um die »Roadmap« nicht herum.
Noch ist unklar, ob und wann die Gespräche zwischen Öcalan, der PKK und dem türkischen Staat wieder aufgenommen werden. Die Forderungen danach – zuletzt gestellt von den Friedensnobelpreisträgern Tutu, Ramos-Horta und Carter sowie ehemaligen Ministerpräsidenten von Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland, nicht jedoch vom diesjährigen Preisträger Europäische Union – finden immer mehr Unterstützung. In jedem Fall, so viel ist sicher, wird bei einer Fortsetzung der Gespräche wieder Öcalans Roadmap auf dem Tisch liegen.
[Die »Roadmap für Verhandlungen« erscheint Anfang 2013 im Pahl-Rugenstein Verlag in der International Initiative Edition.]