Kampagne TATORT Kurdistan – Stand Dezember 2010
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DE: TATORT Kurdistan – Hintergrund Infrastruktur – Oekologische Zerstoerung
ENG: TATORT Kurdistan – Background Infrastructure – Ecological Destruction
Die Bedeutung Kurdistans für die regionalen Besatzungsmächte Türkei, Iran, Irak und Syrien resuliert zu einem nicht unerheblichen Teil aus seinen reichen Bodenschätzen und seiner geostrategischen Position. Die Erschließung der natürlichen Ressourcen Kurdistans liegt zudem im Interesse der westlichen imperialen Staaten – insbesondere den USA, England und Deutschland – die historisch betrachtet die hauptverantwortlichen Mächte der ursprünglichen Vierteilung Kurdistans sind.
Kurdistan liegt im Herzen des Nahen Ostens an der Nahtstelle der drei historisch bedeutenden Völkern der Türken, Perser und Araber. Das Land misst über 550.000 km² und erstreckt sich entlang des hohen Zagrosgebirges und den östlichen Bergketten des Taurus, wo es Anatolien, Mesopotamien, den Iran und den Kaukasus verbindet. Hätte es damals eine kurdische Unabhängigkeit gegeben, würde die heutige Türkei keine Verbindung zu den Grenzen der anderen drei Staaten haben, was die geostrategische Position der Türkei deutlich geschwächt hätte. Klimatisch betrachtet sind alle Teile Kurdistans halbtrockene Gebiete, in denen genug Niederschlag vorhanden ist, um die Landwirtschaft ertragreich zu gestalten. Zudem kann die Region eine relativ reiche Flora und Fauna vorweisen mit einer Walddichte von 20-25%, was auf reiche natürliche Ressourcen schließen lässt. Diese geographischen, klimatischen und natürlichen Bedingungen sind allesamt ein Grund für die vergangene und immernoch andauernde Besetzung des Landes. Auch die permanente Unterdrückung der KurdInnen resultiert größtenteils aus der geostrategischen Lage und der reichhaltigen Bodenschätze dieses Gebietes. Im Laufe des 20. Jhd. steigerte sich die Unterdrückung konsequent und führte zu Massakern an der Zivilbevölkerung, Vertreibungen, Assimilation und Ausbeutung der Bodenschätze. Ohne dies in angemessenem Sinne zu erkennen, ließe sich die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Rolle der türkischen Republik nicht erklären.
Genauer betrachtet ist das Land Kurdistan wirtschaftlich für die regionalen Besatzer jedoch besonders wegen seiner riesigen Öl-, Gas- und Wasservorkommen interessant. Neben diesen drei Faktoren kommen ebenso seine Vorkommen an Metall, Kohle, Kupfer, Gold, Kalk, Holz und Agrarprodukte in das Visier der Ausbeutung.
Die größten Ölvorkommen bedinden sich hauptsächlich im irakisch besetzten Teil Kurdistans (Südkurdistan). Die Ölfelder in Kirkuk enthalten rund 40% der gesamten Ölvorkommen des Staatsgebietes Irak. Der Ölreichtum dieser Stadt und seine kulturelle Heterogenität sind die Hauptgründe, warum Kirkuk die Stadt mit der politisch angespanntesten Lage des Iraks darstellt. Syrien und die Türkei haben selbst keine großen Ölvorkommen und beziehen fast ihr gesamtes Öl aus den Gebieten Kurdistans. Die Ölfelder im iranisch besetzten Teil Kurdistans sind unbedeutend geringer. Sowohl im irakischen Teil Kurdistans als auch im iranischen Teil befinden sich einige bedeutsame Gasfelder. Die Erschließung neuer Gasfelder in Chemchemal (irakisch-Kurdistan) befindet sich in der Planungsphase, mit ihr soll die geplante Nabucco-Pipeline gespeist werden. Wenn der Anschluss an die Pipeline gelingt, wäre deren Kapazitätsauslastung sichergestellt. Diese Perspektive stellt hinsichtlich der Bedeutung Kurdistans für die geplanten Pipelines aus Nah- und Mittelost, dem Kaukasus und dem Kaspischen Raum nach Europa ein gutes Beispiel dar. Der Wettbewerb zwischen zahlreichen AkteurInnen (Türkei, Russland, Iran, Turkmenistan, Aserbaidschan, USA etc.) könnte schwerwiegende Folgen für die politische Situation in und um Kurdistan haben. Schritte in eine demokratische Perspektive für den Nahen- und Mittleren Osten könnten dadurch akut gefährdet werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Wasserpolitik der Region. In Kurdistan, speziell im Osttaurus- und im Zagrosgebirge entspringen zahlreiche große Flüsse, bedingt durch den hohen Niederschlag in der Region (bis zu 1500 mm jährlich), die einen Großteil der Wasservorräte im Nahen Osten tragen. Euphrat und Tigris lassen den türkischen Teil Kurdistans hinsichtlich der Wasserpolitik als enorm wichtig für den türkischen Staat werden. Mit vielen geplanten und bereits fertiggestellten Staudämmen kann die Türkei die Ressource Wasser zu einer gefährlichen Waffe gegen die Nachbarstaaten Syrien und Irak werden lassen, durch die sich die Flussläufe in Richtung Süden bewegen. Auch dem Iran eröffnet sich durch einige Staudämme im eigenen Land dieses Druckmittel gegenüber dem Irak. Für das Ziel einer Regionalmacht kann Wasser zum entscheidenden Politikum werden. Die Errichtung von Staudämmen in Kurdistan (auch in nicht-kurdischen Gebieten) zieht jedoch eine Politik der Vertreibung mit sich, was für Tausende der Weg in die Armut bedeutet. Bis heute sind 170.000 KurdInnen aus ihren Dörfern und Städten vertrieben worden, doppelt so viele sind davon bedroht. An zahlreichen Flussläufen sind weitere Errichtungen von Staudämmen geplant, was eine signifikante Zerstörung des flussnahen Ökosystems, der artenvielfältigsten Gegenden Kurdistans, bedeutet. Zudem führt es zu einem einschneidenden klimatischen Wechsel in den betroffenen Regionen, mit unvorhersehbaren Folgen für die Bevölkerung, Landwirtschaft und das ökologische Gleichgewicht. Mit der Überflutung von weitflächigen Tälern sind zudem historische Zeugnisse ältester Zivilisationen von der Zerstörung bedroht. Ein erschreckendes Beispiel ist hierbei die 12.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf (kurd. Heskîf) , mit ihren archeologisch sehr bedeutsamen Bauwerken. Auch im iranischen Teil Kurdistans sind Flusstäler diesen Bedrohungen ausgesetzt.
In Folge der immer intensiver werdenden Nutzung des Grundwassers ist der Grundwasserspiegel in den letzten Jahren drastisch gesunken. Insbesondere Industriefirmen und Großbauern trockenerer Gebiete graben immer tiefere Bohrlöcher um an Wasser zu kommen, ohne dass sie dabei an Auflagen gebunden werden.
Dazu kommt eine intensive Ausrichtung des türkischen Staats und der EU auf exportorientierte bewässerte Landwirtschaft. Dies zieht eine Zerstörung der Artenvielfalt und Existenzgrundlage der von Subsistenzwirtschaft lebenden Kleinbauern mit sich.
Neben den natürlichen Ressourcen stellt die menschliche Arbeitskraft aus den Kurdenregionen einen wichtigen Faktor für die Länder Türkei, Syrien und Iran dar; die Arbeiterklasse wird zu über 50% von KurdInnen gestellt. Besonders die Wirtschaft der Türkei zieht einen großen Nutzen aus den ärmeren kurdischen ArbeiterInnen, welche meist im Niedriglohnsektor unterkommen.
Jenseits des ökonomischen Profits ergeben sich weitere Ziele mit der ökologischen Zerstörung Kurdistans. Seit 20 Jahren brennt die türkische Armee systematisch Wälder in Kurdistan nieder, um effektiver gegen die PKK (ArbeiterInnenpartei Kurdistans) vorgehen zu können. Außer der kurdischen Bevölkerung regte sich gegen diese Praxis kein Protest. An der irakisch-kurdischen Grenze im Südosten des Landes errichtete der türksiche Staat 11 Staudämme, um so die Mobilität der PKK-Guerilla einzuschränken. Diese Staudämme für die „Sicherheit“ haben keinerlei wirtschaftlichen Nutzen. An dieser Praxis lässt sich erkennen, dass die Türkei an einer friedlichen Lösung des bewaffneten Konfliktes in Kurdistan nicht interessiert ist.
In den letzten Jahren sind im türkischen Teil Kurdistans außerdem Goldvorkommen entdeckt worden, deren Erschließung erhebliche Probleme für die Ökologie und ansässige Bevölkerung mit sich bringen kann. Für den Abbau sind Boden und Grundwasser Chemikalien wie Kaliumzyanid ausgesetzt, die örtlichen Bevölkerung erlangt durch den Abbau jedoch keinen Nutzen. In der Provinz Marash (kurd. Meresh) wurden zwei riesige Kalkwerke (eins der größten Komplexe der Welt) errichtet. Die Firmen verschmutzen die Natur, den Boden und die Wasserressourcen einer ganzen Region.
Alle erwähnten Projekte zur Ausbeutung der Bodenschätze werden von den jeweiligen Zentralregierung aller vier Staaten initiiert und von Konsortien türkischer und internationaler Unternehmen ohne Mitspracherecht lokaler Autoritäten und Bevölkerung ausgeführt. Internationale Firmen sind bereit Milliarden Euros für Infrastruktur- und Energieprojekte in und um Kurdistan auszugeben. Lediglich der fortwährende Krieg in Kurdistan zwischen den Freiheitskämpfern der PKK und den Besatzern beschränkt wirtschaftliche Investitionen in vielen Teilen Kurdistans. In letzter Zeit erheben immer mehr Leute die Stimme gegen die ökologische und soziale Zerstörung der Region.
Was wir benötigen ist eine demokratische und sozialverträgliche Gestaltung des Umgangs mit natürlichen Ressourcen. Profitstarre Unternehmen und korrupte Regierungen gehen zu schonungslos mit der Umwelt um, ohne die verheerenden Folgen zu beachten. Wir brauchen kleinere Projekte, die nicht von großen Privatunternehmen sondern von lokalen gemeinnützigen Gemeinschaften getragen werden. Diese Forderungen schließen auch das Ende des Besatzungstatusses in Kurdistan ein und die Stärkung von autonomen und demokratischen Strukturen, was die Bevölkerung Kurdistans in ihrer Forderung einer „Demokratischen Autonomie“ zum Ausdruck bringt.