Vom Status quo zum permanenten Ausnahmezustand

Einschätzung der aktuellen politischen Situation und Konstellation in Kurdistan sowie Ausblicke der Kampagne TATORT Kurdistan
Das Chaos und der Krieg im Mittleren Osten unterliegen zahlreichen äußeren und inneren Veränderungsdynamiken. Für einen besseren Überblick lassen sich die AkteurInnen dieser Transformationsphase im Mittleren Osten in drei Kategorien aufteilen:
1. Die externen westlichen bzw. internationalen Kräfte: Sie versuchen die alte Ordnung im Mittleren Osten, die nicht mehr ihren Interessen dient, sondern zunehmend schadet, zu überwinden. Hierbei sind insbesondere die USA, Russland und auch immer aktiver werdende europäische Länder zu nennen [1].
2. Die lokalen Völker und Glaubensrichtungen, die Frauen sowie revolutionäre und demokratische Kräfte: Sie versuchen alle unrechtmäßigen und undemokratischen Zwänge, die der alten Status quo mit sich brachte, zu überwinden und eine demokratische und freie Zukunft aufzubauen. Die Vorreiterrolle dieser demokratischen Kräfte spielen heute die Freiheitsbewegung Kurdistans und die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien/Rojava.
3. Die regionalen Kräfte des Status quo: Sie versuchen auf der einen Seite, tiefgreifende Veränderungen aufzuhalten und auf der anderen Seite, die unvermeidlichen Transformationen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Hierbei sind insbesondere die Türkei, das syrische Regime und der Iran zu nennen. Ihre Staatsgebiete sind zudem Kriegsschauplatz der Auseinandersetzungen.
Diese Situation macht die ersten beiden Kräfte nicht automatisch zu strategischen BündnispartnerInnen, aber sie schafft Grundlagen für partielle Beziehungen dieser beiden Kräfte mit jeweils unterschiedlichen Weltanschauungen und Ideologien. Die internationalen Kräfte versuchen enge Verbindungen zu den Kräften, die bislang den Status quo sicherten, aufrecht zu halten, weil sie bislang von ihm profitierten. Sie sind in ihrem Streben nach einer neuen Ordnung aber auch dazu gezwungen, das Veränderungspotential der lokalen Kräfte zu nutzen. Ähnliches gilt auch für die Kräfte, die für den Status quo eintraten. Damit mit der Transformation in der Region keine wirklich tiefgreifenden Veränderungen einhergehen, sehen sie es als notwendig an, sowohl mit den internationalen als auch den lokalen AkteurInnen Beziehungen zu pflegen. Kommen zu dieser Situation noch die ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Interessengegensätze und Widersprüche zwischen den internationalen AkteurInnen, den Status quo-Kräften und lokalen Kräften, breitet sich ein komplexes Netz aus Beziehungen und Widersprüchen aus. Der Kampf im Mittleren Osten wird in diesem komplexen Netz geführt, in dem jeder mit jedem Beziehungen und Widersprüche hat. Aus diesem Grund gibt es auf keine Frage im Mittleren Osten eine einfache Antwort. Nichts ist in diesem Chaos absolut oder dauerhaft.
Diese allgemeine Bewertung können wir als Kampagne TATORT Kurdistan aus den Erfahrungen und Entwicklungen, die sich im Mittleren Osten seit sechs Jahren ereignen, ziehen. Es ist vorauszusehen, dass die kommenden Entwicklungen hauptsächlich entlang dieser Linien verlaufen werden.
Der „Tatort Kurdistan“ befindet sich an der zentralen Schnittstelle dieses sogenannten Dritten Weltkrieges im Mittleren Osten, der sich zunehmend auf das Länderdreieck Türkei-Irak-Syrien konzentriert. Diese zentrale geografische Lage erklärt auch die enorme Bedeutung des Paradigmas des Demokratischen Konföderalismus und seiner konkreten Umsetzung im Rahmen der Demokratischen Föderation Nordsyriens.
Im Kontext dieser Bewertungen repräsentiert der türkische Staat eine regionale, auf den Status quo beharrende Kraft, welche sich sowohl in der Innen- als auch der Außenpolitik den Kampf gegen die Freiheitsbewegung Kurdistans und die kurdische Gesellschaft als Ganzes auf die Fahnen geschrieben hat. Das Verfassungsreferendum wurde bereits von vielen Seiten bewertet und analysiert. Folgende Feststellung kann für das Referendum getroffen werden: Unter demokratischen Mindeststandards wurden in der Türkei das letzte Mal am 7. Juni 2015 Wahlurnen aufgestellt. Alle Wahlen und Abstimmungen, die darauf folgten, sind undemokratisch gewesen. Selbst bei der Abstimmung zum Referendum am 16. April 2017, bei dem der türkische Staat alle Arten von Unterdrückung, Drohung und Betrug anwandte, konnten die „Ja“-Stimmen nur knapp 51% erreichen. Dies zeigt klar und deutlich, dass die Gesellschaften in der Türkei die Innen- und Außenpolitik der AKP nicht befürworten. Der 16. April hat ein Ergebnis wie die Wahl vom 7. Juni 2015 hervorgebracht. Die demokratischen Kräfte der Türkei haben einmal mehr den Nationalismus des türkischen Nationalstaats abgelehnt und ihren Willen für ein freies, gleichberechtigtes und demokratisches Zusammenleben zum Ausdruck gebracht. Wie nicht anders erwartet, hat der türkische Staat nach dem Referendum seine Repression gegen alle „Nein-SagerInnen“ verschärft: anhaltende Festnahmen, aggressiv nationalistische Diskurse in den Medien und die Einschränkung von zentralen Grundrechten. Nur wenige Tage nach dem Referendum folgten zudem Luftangriffe auf Şengal (Südkurdistan/Nordirak) und auf das Hauptquartier des Generalkommandos der Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Karachox in der Nähe der Stadt Derik. Wie der Demokratische Gesellschaftskongress (DTK) in einer Erklärung zum Ausdruck brachte, gab dieser Angriff dem Islamischen Staat (IS) Luft zu atmen.
Im Kontext dieser repressiven und autoritären Entwicklung in der Türkei machte zuletzt das Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Mustafa Karasu auf die Perspektive für eine mögliche Demokratisierung der Türkei aufmerksam: „Gegenwärtig kann eine Lösung der Demokratisierungsprobleme und der kurdischen Frage nur durch die Einheit der demokratischen Kräfte und im demokratischen Kampf erzielt werden.“[2]
Diese Roadmap zur Demokratisierung über eine demokratische Einheit zeigt sich im syrischen Bürgerkrieg mit dem Aufbau der Demokratischen Föderation Nordsyriens. Die Stärke der demokratischen Einheit zeigt sich dort zum einen auf der gesellschaftlichen Ebene. So beteiligen sich in der Stadt Minbic wie auch in ganz Nordsyrien verschiedenste Volksgruppen und Glaubensrichtungen an den Selbstverwaltungsstrukturen und regeln ihre eigenen Angelegenheiten auf der Grundlage der Prinzipien demokratischer Selbstverwaltung in ökonomischen, sozialen, Sicherheits-, Gesundheits-, Bildungs- und kulturellen Angelegenheiten selbst. Die Stärke der demokratischen Einheit konkretisiert sich aber auch im bewaffneten Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Während der IS staatliche Armeen überrannte, leitet das Militärbündnis verschiedener Volks- und Religionsgemeinschaften in Syrien, die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), nun die Endoffensive gegen den IS in Raqqa ein.
Der Tod von Ayşe Deniz Karacagil, die bei den Gezi-Protesten vor vier Jahren als „das Mädchen mit dem roten Schal“ bekannt wurde, im Kampf gegen den IS in Raqqa am 29. Mai und der Tod des türkischen Internationalisten und Gezi-Aktivisten Ulaş Bayraktaroğlu, der Kommandant der kämpfenden Einheit der Birleşik Özgürlük Güçleri (Vereinte Freiheitskräfte) war, haben den internationalistischen Charakter der Rojava-Revolution und der Demokratisierung Syriens noch einmal unterstrichen. Diese sozialistischen RevolutionärInnen sind die GarantInnen und VerteidigerInnen des demokratischen sozialistischen Charakters der Revolution in Rojava und der demokratischen Revolution Nordsyriens. Die Teilnahme türkischer Linker (und anderer InternationalistInnen) am Aufbau und der Verteidigung der Demokratischen Föderation Nordsyrien bzw. der Demokratischen Autonomie in Rojava – gerade jetzt, wo die Gesellschaften der Türkei erneut durch sehr schwere Zeiten gehen – führt vor Augen, welche Hoffnung und Chancen in der Rojava-Revolution für die gesamte Region Mittlerer Osten und darüber hinaus liegen.
Auch diese Hoffnung und Möglichkeiten, die von Rojava ausgehen, greift die Bundesregierung durch die Ausweitung des PKK-Verbots an. Mit Rundschreiben vom 2. März hat das Bundesinnenministerium das Zeigen der Symbole zahlreicher weiterer kurdischer Organisationen auf Versammlungen faktisch verboten. Die Partei der Demokratischen Einheit (PYD), die maßgeblich am Aufbau der Demokratischen Autonomie in Nordsyrien beteiligt und auch von der neuen Kriminalisierungswelle betroffen ist, ruft für Samstag, den 17. Juni, zur Demonstration „Solidarität mit Rojava und Shengal – Gegen die Kriminalisierung der PYD, YPG und YPJ“ in Berlin auf: 12.00 Uhr, Mathilde-Jakob-Platz/Rathaus Tiergarten.
Welche Folgen die gewaltsame Durchsetzung solcher Verbote haben kann, mahnt uns u.a. die Geschichte von Halim Dener. Weil er die Symbole einer PKK-nahen Organisation plakatiert hatte, wurde der 16-Jährige 1994 von einem Polizisten in Hannover erschossen. Seit Jahren engagiert sich die Kampagne Halim Dener für ein würdevolles Gedenken an ihn und verbindet dies mit der Thematisierung des Kurdistan-Konflikts, der Frage von Flucht und Asyl, dem PKK-Verbot und tödlicher Polizeigewalt. In den letzten Wochen hat der Bezirksrat in Linden-Limmer/Hannover gegen den Protest türkischer NationalistInnen und des Oberbürgermeisters Stefan Schostok beschlossen, einen Halim-Dener-Platz zu benennen. Zum 23. Todestag ruft die Kampagne Halim Dener zu einer Demonstration in Hannover auf (30. Juni 2017, 17.00 Uhr, Steintor/Hannover): halimdener.blogsport.eu
Am Tag darauf, dem1. Juli, wird das Zîlan-Frauenfestival in Dortmund stattfinden (10.00 Uhr, Hoeschpark, Höfkerstraße 12). Willkommen sind alle gender. In den verschiedenen Städten organisieren die kurdischen Frauenräte gemeinsame Anreisen, denen sich alle solidarischen Interessierten anschließen können.
Ein Thema, das derzeit die Linke in der BRD beschäftigt, ist der G20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg. Auch die Freiheitsbewegung Kurdistans ruft zur Teilnahme an den Protesten auf, insbesondere zum Solidarity Summit (5./6. Juli) und zur internationalen Großdemo „Solidarität statt G20“ (8. Juli).
Ihr geht es dabei nicht nur um die Gipfel-Teilnahme Erdoğans oder die aktuelle Lage in Kurdistan. Sie will die Proteste nutzen, um ihre eignen Vorstellungen und Projekte als Alternative zum System der G20 zur Diskussion mit anderen linken Bewegungen und AktivistInnen zu stellen. Sie versteht ihr eigene Politik, wozu auch der Aufbau basisdemokratischer Räte und Gesellschaftszentren in der BRD gehört, als Teil des globalen Kampfs für eine Demokratische Moderne. Mit einer eigenen politischen Linie will sie in den Protesten sichtbar sein und ruft daher alle Solidarischen zum Demo-Block „Berxwedan jiyan e!“ auf der Großdemo auf.
Was beim G20-Gipfel passieren wird, hat ganz reale Auswirkungen auf das Leben der Menschen und das politische Projekt der Demokratischen Autonomie in Kurdistan. Die Beteiligung der BRD und ihrer Wirtschaft am Krieg in Kurdistan und dem Mittleren Osten drückt sich u.a. in Waffenexporten aus, die in internationalen Dimensionen gedacht werden müssen. Der Rüstungskonzern Rheinmetall plant derzeit den Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, was die Bundesregierung als rein unternehmerische Entscheidung darstellt und dabei die Umgehung der Rüstungsexportkontrollen durch den Konzern gutheißt. Doch dagegen entwickelt sich vielerorts Widerstand, ob in Unterlüß bei Celle, wo Rheinmetall Waffen produziert, oder in Düsseldorf, dem Sitz des Unternehmens. Das Thema Rüstungsexporte wird die Kampagne TATORT Kurdistan aus gegebenem Anlass in den nächsten Monaten stärker beschäftigen müssen.
Des Weiteren werden wir in den nächsten Wochen und Monaten auf zahlreichen Veranstaltungen, Konferenzen, Festivals und Camps sein, um über die kurdische Frage und den Demokratischen Konföderalismus zu informieren und zu diskutieren. Es sind verschiedene Veranstaltungsreisen mit Lesungen und Buchvorstellungen, Fußball-Fans aus Nordkurdistan (Türkei), Ausstellungen, Aktionen zum Thema Ökologie oder der Haftsituation Abdullah Öcalans, Patenschaften mit Familien und Freundschaften mit AktivistInnen in Kurdistan in Vorbereitung. Es gibt also viel zu tun und wir freuen uns wie immer über neue MitstreiterInnen, Ideen und Kritik; wenn ihr euch in die Kampagne TATORT Kurdistan einbringen wollt, dann schreibt uns an und/oder kommt zu unserem nächsten Treffen am 20. August.
Juni 2017, Kampagne TATORT Kurdistan
[1] http://civaka-azad.org/britanniens-neuer-mittelost-report/
[2] http://yeniozgurpolitika.org/index.php?rupel=nivis&id=13466