Der folgende Artikel ist ein offener Brief an das Europäische Parlament und wurde an jeden EU-Abgeordneten und alle EU-Organe verschickt
Das kurdische Volk ist stolz auf dich, Mehmet Tunç!
10. Februar 2016
Von Nurcan Baysal
Es gibt viele Verwundete, die in Kellern in Cizre seit fast einem Monat Zuflucht gesucht haben. Es gab einen Mann, der uns informiert hat, die ganze Welt, tatsächlich auch Sie, das Europäische Parlament, über das, was in Cizre geschieht; dieser Mann war der Co-Vorsitzende der Volksversammlung von Cizre.
Auch, als die Nachricht vom Tode Mehmet Tunçs schon zwei Tage lang über soziale Medien verbreitet wurde, wollte ich es nicht glauben. Während der letzten zwei Tage habe ich mit dem Telefon in der Hand, in Verbindung mit Menschen von Orten zwischen Cizre und Brüssel, versucht herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Ich wollte nicht glauben, dass dieser tapfere Mann gestorben ist.
Heute Abend bekam ich die Nachricht, dass Mehmet Tunç sein Leben verloren hat. Ich hatte mit Mehmet Tunç vor zwei Wochen gesprochen, als ich in Brüssel war, um ein Seminar der 12. „EU, Türkei, Mittlerer Osten und die Kurden“-Konferenz (EUTCC) zu moderieren.
Mehmet Tunç hatte einen Aufruf an das Europäische Parlament verfasst aus dem Keller, in den sie sich zurückgezogen hatten:
„Die Situation ist nicht, wie in den Medien beschrieben. Es findet ein Massaker in Cizre statt; wir sind mit einem Genozid konfrontiert. Alle Häuser wurden bombardiert, Panzer wurden eingesetzt. Waffen, die für den Einsatz gegen Feinde gedacht sind, werden von der AKP-Regierung und dem türkischen Staat gegen die eigenen Bürger eingesetzt. Es ist eine Tragödie in Cizre. Seit 60 Tagen sind die Menschen jetzt ohne Brot und Wasser. Nur 10.000 von einer Bevölkerung von 120.000 sind geblieben. Der Staat hat die Menschen gewaltsam vertrieben. Eine ähnliche Politik wurde in den 90-er Jahren verfolgt. 4000 Dörfer wurden dem Erboden gleichgemacht und die Leute an Orte wie Cizre vertrieben. Sie entvölkerten die Dörfer, um die PKK auszuschalten. Nun entvölkern sie Städte und sagen, das geschehe, um die PKK auszuschalten. Das ist klar eine Tragödie in Cizre. 28 Menschen wurden in einem Haus in Cizre verwundet. Fünf der Verwundeten starben an Blutverlust. Es gibt kein Wasser mehr. Wir gehen raus, um Wasser zu holen, und werden von Scharfschützen beschossen.Wir können nicht existieren. Ich bin gerade im Gebäude. Die Situation ist kritisch.
Deshalb rufe ich die Freunde hier auf: Bitte stoppt diese Barbarei! Ihr seid stark genug, um dieses Massaker in Cizre aufzuhalten. Ihr seid stark genug, um die AKP-Regierung zu warnen und die Belagerung von Cizre aufzuheben. Wenn ihr hier versagt, werdet ihr Komplizen bei diesem Massaker.“
Und Ihr, das Europäische Parlament, seid nun Komplizen bei diesem Massaker!
Mehmet Tunç, der Mann, der an Euch appelliert hat, wurde auch massakriert. Vielleicht wurde er massakriert, weil er euch, der ganzen Welt die Wahrheit über das, was in dem belagerten Stadtviertel von Cizre geschieht, nahe gebracht hat. Ich weiß nicht, ob ihr Scham empfindet, ich schäme mich, dass ich diesen bevorstehenden Tod nicht aufhalten konnte.
„Dies ist womöglich das letzte Mal, dass wir sprechen, aber wir werden stolz und ehrenvoll sterben“
Vor ein paar Tagen sprach Mehmet Tunç von einem Keller eines zweiten Gebäudes in Cizre aus, wo viele verwundete Menschen in der Falle gesessen hatten, zu einem Fernsehsender: „Dies sind womöglich meine letzten Worte zu Euch“, sagte er und fuhr fort: „ Wir befinden uns von Angesicht zu Angesicht mit einem zweiten Madimak-Hotel-Massaker. Die Wunden des Massakers von 1993 sind noch nicht verheilt und hier verbrennen 30-40 Menschen. Rauch hat das Gebäude gefüllt und die Flammen kommen näher. Vor den Krankenwägen muss dringend die Feuerwehr kommen, um den Brand zu löschen. Hier sind Menschen, die Gliedmaßen verloren haben: hier sind Kinder, schwer verwundete Menschen. Sie werden alle lebendig verbrennen, ich habe keinen Zweifel, dass das eine Schande sein wird, die über der gesamten Türkei hängen wird. Über der gesamten Menschheit und den Vereinten Nationen. Im Moment sind mindestens 37 Menschen hier…
Gerade warten wir auf den Tod. Wenn dieses Gebäude zusammenbricht, wird die Humanität unter dem Schutt begraben sein. Sie werden dafür keine Rechtfertigung finden…
Dies ist an das kurdische Volk gerichtet: Dies ist ein Kampf… Ihr müsst alle Eure Moral hoch halten. Gerade weil Menschen sterben werden in diesem Gebäude, heißt das nicht, dass der Kampf für Freiheit vorbei ist, dass er zu Ende ist. Aber wir haben seit 60 Tagen geschrien, gerufen, appelliert an die Menschen. Die Menschen in Cizre haben ihre Körper zu Schilden gegen Panzer, Granaten, Flammenwerfer und Raketenwerfer gemacht. Ich habe keine Zweifel. Ich sende Grüße an alle Freunde, die den Kampf fortsetzen. Trotz der Kälte, dem Hunger und Durst, knien die Menschen in Cizre nicht nieder. Deshalb müssen die verbliebenen Menschen stolz auf uns sein. Ich weiß, die Staatskräfte rücken näher. Es besteht die Gefahr, dass sie uns langsam hinrichten. Gestern kamen sie und sagten: „Ergebt euch oder verbrennt lebendig. Wir werden euch alle ersticken.“ Ich kenne die Absichten der AKP-Regierung, des Gouverneurs und des Innenministeriums nicht. Aber es herrscht Barbarei in Cizre im Moment. Es findet ein Massaker statt. Aber wir werden nicht niederknien…“
Mehmet Tunç hat niemals die Tyrannei gegen seine Leute akzeptiert, nicht einmal bei seinem letzten Atemzug; er blieb in dem Keller, um die Verwundeten zu unterstützen und wurde dabei massakriert. Die Leute im Keller wussten, „Aufgabe“ würde ein Massaker bedeuten. Deshalb haben die Menschen den Keller nicht verlassen. Am 6. Februar in Cizre vertraute der 16-jährige Abdullah Gül dem Aufruf zur Aufgabe und wurde erschossen, als er den Keller verließ, in dem er und andere fest saßen. Es war genau aus diesen Grund, warum Mehmet Tunç an Euch appelliert hat. Mit Eurer Unterstützung hätten die Verwundeten in Cizre den Keller auf würdige und sichere Weise verlassen können.
Mehmet Tunç war Zivilist. Obwohl es bewaffnete junge Menschen in den Kellern in Cizre gibt, gibt es auch viele Zivilisten. Sogar Kinder. Egal, wer in den Gebäuden ist, sogar wenn sie bis an die Zähne bewaffnet wären, kann der Staat sie nicht lebendig verbrennen. Das ist ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Während ich diese Zeilen schreibe, werden 27 verbrannte Menschen aus dem Keller in Cizre ins Leichenschauhaus gebracht. Seit zehn Tagen gibt es keine Nachricht von den Verwundeten, die in einem anderen Keller fest saßen.
Wir schämen uns für Euch, Europäisches Parlament!
Ihr habt dem Tod eines Mannes zugeschaut, einem Politiker und Zivilisten, der an Euch appelliert hat, der um Hilfe gebeten hat. Ihr habt nur zugeschaut und nichts getan, als verwundete Menschen in Cizre lebendig verbrannt wurden. Und Ihr schaut der Tyrannei, der Barbarei zu, die an den Kurden begangen wird. Ihr solltet euch schämen! Schämen für die Prinzipien, von denen Ihr so oft redet, aber die Ihr nur umsetzt, wenn es euch nützt.
Diese Schande wird als ein Fleck auf der hochentwickelten Menschenrechtszivilisation haften, auf die Ihr so stolz seid.
Dein Volk ist stolz auf Dich, Mehmet Tunç!
Dieser Text erschien zuerst im Nachrichtenportal T24 auf Türkisch, auf Englisch in Kurdish Question.
Übersetzung ins Deutsche: Kampagne TATORT Kurdistan